Ohne klinische Studien keine Medizin von morgen
Klinische Studien sind Motor des medizinischen Fortschritts - nur so lässt sich überprüfen, ob neue Arzneimitteltherapien für Menschen mit Erkrankungen einen Unterschied machen.
Deutschland hat seine weltweite Spitzenposition in der Klinischen Forschung längst verloren, ist vom Vizeweltmeister (2016) auf den 7. Platz gerutscht. Wo es hapert? Und was es in Zukunft braucht? Dazu ein Interview mit Dr. Doris Henn. Sie sorgt mit ihrem Team dafür, dass die biopharmazeutischen Studien des forschenden Pharmaunternehmens AstraZeneca in Deutschland laufen.
Warum ist das Durchführen klinischer Studien in Deutschland so wichtig? Im Grunde ist ja egal, wo sie durchgeführt werden, Hauptsache, sie werden gemacht.
Dr. Doris Henn: Das sehe ich nicht so. Je weniger Studien wir in Deutschland machen, desto weniger Patientinnen und Patienten haben hierzulande die Chance auf eine frühe Therapiemöglichkeit. Das haben wir bei der Corona-Pandemie gesehen. Der Run auf Impfstoffstudien war enorm, weil die Menschen verstanden haben: Da bin ich der oder die Erste. Es ist übrigens nicht so, dass wir in Deutschland weniger Studien durchführen als früher, aber andere Länder haben uns überholt.
Was hat sich geändert?
Henn: Viele andere Länder haben in den vergangenen Jahren Investitionsprogramme aufgelegt, Gesetze geändert, Erleichterungen auf den Weg gebracht, um die klinische Forschung zu stärken. Bei uns hingegen wird sie so ein wenig stiefmütterlich behandelt; es ist viel einfacher, Unterstützung für Grundlagenforschung zu bekommen.
Ist das auch der Grund, warum bei uns das Translationale hapert, also die Übertragbarkeit von Grundlagenforschung in die medizinische Praxis?
Henn: Ganz genau. Uns fehlt da ein Stück Forschungskultur. In einem normalen Medizinstudium kommt die klinische Forschung nicht vor – es sei denn, sie machen ihr praktisches Jahr zufällig in einer Klinik, die Studienzentrum ist. Ansonsten kommen sie als angehender Mediziner oder Medizinerin damit nicht in Berührung. Es gibt zarte Versuche, das zu ändern. Aber das Problem sitzt viel tiefer.
Was meinen Sie?
Henn: Ob eine Studie gut läuft, steht und fällt mit den Study Nurses. Das sind Studienkoordinatorinnen und Studienkoordinatoren – was bei uns im Gegensatz zu anderen Ländern kein definiertes Berufsbild ist.
Was ist deren Aufgabe?
Henn: Bei denen läuft alles zusammen: die Vorbereitung der Studie, Planung, Organisation und Durchführung des operationalen Teils, also all das, was nicht durch Medizinerinnen und Mediziner erfolgen muss. Natürlich gehört dazu die Betreuung der Patientinnen und Patienten und die Dokumentation der Studiendaten. Außerdem gilt es, alle beteiligten Parteien – Ärztinnen und Ärzte, Sponsoren, Labore oder Apotheken – zu koordinieren. Ich finde das ist ein hochattraktives Betätigungsfeld. Solche Nurses sind ganz entscheidend dafür, wie gut eine Studie läuft. Klinische Zentren ohne eine professionelle und erfahrene Koordination werden Schwierigkeiten haben, eine klinische Studie gut und zeitgerecht umzusetzen.
Wir bei AstraZeneca arbeiten mit solch en Zentren nicht mehr zusammen.
Woran hapert es noch?
Henn: Zunächst einmal: Deutschland hat in der klinischen Forschung international einen guten Ruf, weil die Qualität der Daten stimmt. Aber die Begeisterung könnte größer sein: Bei uns laufen 33 klinische Studien pro 1 Millionen Einwohner, in Dänemark sind es 192. Und: In anderen Ländern werden viel mehr Menschen pro Zentrum und Studie rekrutiert als hierzulande. Das aber bedeutet, dass das Fachpersonal viel eingehendere Erfahrungen mit den neuen Therapien machen kann und deshalb solche Therapien nach Zulassung viel schneller in der Versorgung ankommen.
Aber es heißt doch, dass gerade kranke Menschen den Sinn solcher Studien sehen und es deshalb eine hohe Bereitschaft zur Teilnahme gibt…
Henn: Das stimmt. Aber das Problem ist, dass die Studien oft nicht zu den Menschen kommen. Ärzt:innen in Deutschland haben eine klinische Studie als mögliche Behandlungsmöglichkeit oft gar nicht auf dem Schirm. In anderen Ländern funktionieren die so genannten Zuweiser Netzwerke besser, bei denen die Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner ihre Patientinnen und Patienten an spezialisierte Zentren überweisen.
Das alles klingt nach: Viel zu tun. Nun ist das Medizinforschungsgesetz (MFG) auf den Weg gebracht. Wird jetzt alles besser?
Henn: Das MFG ist ein erster Schritt – man merkt dem Gesetz an, dass wirklich versucht wurde, die Situation zu verbessern. Schauen wir auf die Rahmenverträge als Grundlage zur Durchführung von Studien – ich hätte mir zwar lieber Standardverträge gewünscht, aber nun sind immerhin Standardklauseln daraus geworden. Auch die Abstimmung mit den rund 30 Ethikkommissionen soll nun vereinfacht werden – das wird das gesamte Verfahren hoffentlich beschleunigen. Bei uns ist das mit der Bürokratie ja so, dass wir mit einer Studie erst anfangen, während sie in anderen Ländern schon fast fertig ist. Was aber im MFG fast gänzlich fehlt, ist, dass man auch an den Studienzentren etwas tut.
Was meinen Sie damit?
Henn: Buchstäblich auf dem letzten Meter ist in das MFG die Regelung aufgenommen worden, dass, wenn wir in Deutschland 5 Prozent der Patient:innen des globalen Entwicklungsprogrammes beisteuern, wir auch finanzielle Vorteile bei den Erstattungsverhandlungen haben können. Nur: Es liegt gar nicht am Willen der Industrie, in Deutschland Studien durchzuführen; wir haben schlicht nicht ausreichende Kapazitäten. Wir sind in manchen Indikationen gar nicht in der Lage, so viele Menschen in den klinischen Zentren zu behandeln.
Heißt das: Wir haben die Infrastruktur dafür gar nicht?
Henn: Ja, genau. Wir führen Studien durch, da brauchen wir weltweit rund 20.000 Patientinnen und Patienten. In Deutschland müssten wir laut MFG folglich 1.000 beisteuern. Nehmen wir das Beispiel Asthma und COPD: Wir haben in Deutschland rund 100-150 Zentren. Die können das gar nicht leisten – vor allem, wenn man wie wir in mehreren Indikationen mit verschiedenen Wirkstoffen forscht.
Was wäre eine mögliche Lösung?
Henn: Es müsste ein Programm geben, mit dem sich niedergelassene Spezialisten oder Kliniken zu Studienzentren weiterentwickeln können. Wir haben deshalb ein Team zusammengestellt, was sich nur darum kümmert, Zentren zu identifizieren, die in der Lage wären, solche Studien durchzuführen. Und im nächsten Schritt unterstützen wir diese Zentren dabei, sich zu Prüfzentren weiterzuentwickeln. Das ist ein enormer Aufwand – und macht auch kaum jemand sonst. Aber das ist es, was mir im MFG fehlt: Dass die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, dass Studien flächendeckend professionell durchgeführt werden – ein Infrastrukturprogramm, wenn Sie so wollen.
Was treibt Sie und Ihr Team an, jeden Tag gegen diesen Moloch anzulaufen?
Henn: Das frage ich mich auch manchmal [lacht]. Mein Treiber ist: Ich möchte so früh wie möglich kranken Menschen Therapieoptionen anbieten, die ihnen bisher nicht zur Verfügung stehen. Und ich sehe – Stichwort MFG – es ändert sich was. Wir schaffen gerade die Voraussetzungen dafür, wieder ganz oben mitzuspielen – allerdings muss es jetzt auch umgesetzt werden. Sonst wachen wir in fünf Jahren auf und stellen fest: Oh, die anderen sind schon wieder weiter.