- Chancen durch Einbeziehung der Elternteile in das therapeutische Konzept -
Frau Tanja Hof stellte im
ersten Teil
dar, welche Auswirkungen die chronische Erkrankung eines Kindes auf das
gesamte Familiensystem haben kann. Frau Ymke Stephan geht nun in Teil 2
darauf ein, welche Chancen sich eröffnen, wenn auch Elternteile in das
therapeutische Konzept mit einbezogen werden können.
Grundgedanken zum therapeutischen Ansatz
Aus dem bisher Dargestellten wird deutlich, dass eine chronische
Erkrankung wie die atopische Dermatitis diverse Belastungen für das
gesamte Familiensystem mit sich bringen kann. Die Auswirkungen der
Erkrankung sind also nicht nur isoliert beim Kind zu beobachten.
Entsprechend macht es Sinn, auch im Hinblick auf die Suche nach
kausalen Zusammenhängen und die Therapie den Blickwinkel über das
betroffene Kind hinaus zu erweitern.
In der Rehabilitation der Kinder halte ich einen Ansatz für
wünschenswert, der die ganze Familie mit einbezieht. Es geht dabei
nicht darum, individuenzentrierte Ansätze herabzuwürdigen.
Schulungsmaßnahmen oder bei Indikation psychotherapeutische
Einzeltermine haben nicht nur ihre Berechtigung, sondern sind
unverzichtbar.
Bleiben diese Maßnahmen jedoch isoliert für sich stehen, greifen sie häufig nur kurzfristig.
Man stelle sich beispielsweise ein achtjähriges Kind vor, dass im
Rahmen einer stationären Rehabilitationsmaßnahme ohne Anwesenheit der
Eltern viel über den Umgang mit seinem atopischen Ekzem lernt. Zu Hause
wird das Kind jedoch von einer Mutter, die aufgrund ihrer
Berufstätigkeit latente Schuldgefühle empfindet, für unselbständiges
Verhalten und Krankheitssymptome mit verstärkter Aufmerksamkeit
belohnt. Kommt dieses Kind dann wieder nach Hause und gerät wiederum in
diese Familiendynamik, so ist es für das Kind wenig sinnvoll, die
erlernten Therapiemaßnahmen gewissenhaft umzusetzen. Beispielsweise
führt das Vernachlässigen des eigenständigen Eincremens dann zwar zu
einer Verschlechterung der Symptomatik, trägt dem Kind aber auf anderer
Ebene Zuwendung ein. So bringt in diesem Fall die Schulungsmaßnahme
keinen langfristigen Effekt. Bald wird sich das gewohnte Gleichgewicht
mit den gewohnten Interaktionen wieder herstellen. Deshalb vertrete ich
einen Ansatz, der meines Erachtens dem komplexen Bedingungsgefüge
psychosomatischer Erkrankungen besser gerecht wird. Eine besondere
Rolle spielt dabei die systemische Familientherapie, die zwar nicht
ausschließlich meinen theoretischen Hintergrund und mein
praxisorientiertes Handeln ausmacht, die jedoch als grundsätzliche
Herangehensweise eine besondere Bedeutung für mich hat.
Was ist systemische Therapie?
Deshalb möchte ich der Frage: „Was ist eigentlich systemische
Therapie?“ im folgenden etwas genauer nachgehen und die grundsätzlichen
Annahmen sowie einige der in der Therapie verwandten Techniken
darstellen.
Systemische Therapie ist eine bestimmte Art des Denkens und des
Handelns, die ungefähr vor 40 Jahren mit der Familientherapie
einsetzte, sich in verschiedene Richtungen weiterentwickelte und deren
Wirksamkeit heute auch in anderen Systemen als dem familiären, z.B. in
beruflichen Teams oder Fußballmannschaften, genutzt wird.
Grundannahmen zur Kausalität und Realität
Das systemische Denken wendet sich ab von dem linearen Ursache -
Wirkungs-Denken. Gesundheit, Krankheit oder Interaktionen werden nicht
auf eine einzelne Ursache zurückgeführt, sondern bei ihrer Betrachtung
werden Vernetzungen, Rückkopplungen und Komplexität beachtet.
Bekannt geworden ist hier eine Geschichte von Watzlawick, der ein Paar
in der Ehetherapie beschreibt. Die Frau sagt:“ Ich schreie meinen Mann
an, weil er sich ständig zurückzieht.“ Der Mann sagt:“ Ich ziehe mich
zurück, weil meine Frau mich ständig anschreit.“ Was ist hier Ursache,
was ist Wirkung? Diese Frage ist nicht ohne weiteres zu beantworten, da
die Antwort davon abhängig ist, welchen Blickwinkel, welche Perspektive
ich einnehme. In der systemischen Therapie geht es nicht darum, „die
Wahrheit“ herauszufinden, denn die Wahrheit ist untrennbar an den
Betrachtenden gebunden. Somit existieren also viele verschiedene
Wahrheiten nebeneinander.
Wenn man verschiedene Personen fragen würde, warum Lisa kratzt, würde
man vielleicht unterschiedliche Antworten hören. Der Opa würde sagen
„Sie ist krank. Sie hat Neurodermitis.“, Lisa würde sagen: „Es juckt.“,
die Mutter würde sagen: „Sie hat Schokolade gegessen, obwohl sie weiß,
dass sie gegen Nüsse allergisch ist.“, die TherapeutIn würde vielleicht
sagen: „Das ist Lisas Strategie, um die Aufmerksamkeit auf sich zu
lenken.“
Hier wird deutlich, dass man eigenes oder auch fremdes Verhalten aus
unterschiedlichen Perspektiven betrachten, beschreiben, beurteilen oder
bewerten kann. Keine dieser Perspektiven ist dabei per se mehr oder
weniger richtig als die andere. Die absolute Wahrheit ist für uns nicht
erfassbar, und so kommt es in der systemischen Therapie auch nicht
darauf an herauszufinden, was die Wahrheit ist, sondern welche Sicht
nützlich ist, eingeengte Perspektiven erweitert, etwas anstößt oder
etwas verändert.
Die Rolle der Therapeutin
Im systemischen Menschenbild ist ein Mensch ohne die Umwelt
nicht lebensfähig, ist mit ihr vernetzt und steht in ständigem
Austausch mit ihr.
Auf der anderen Seite ist der Mensch ein
autonomes, selbstverantwortliches System, dessen Verhalten durch die
eigene Struktur bestimmt wird.
Für die Therapeutin (wegen der besseren Lesart wähle ich hier die
weibliche Formulierung, selbstverständlich sind damit aber ebenso die
männlichen Kollegen gemeint) bedeutet das, dass nicht ihre
therapeutische Intervention bestimmt, was mit einem Kind oder einer
Familie passiert, sondern die Struktur des Kindes oder der Familie
bestimmt, was mit der therapeutischen Intervention passiert.
Die Therapeutin kann niemanden gezielt beeinflussen oder zu einer
Veränderung zwingen, sie kann lediglich das System „verstören“.
Ähnlich einem Mobile kommt es zu einer Bewegung, die Therapeutin kann jedoch nicht genau vorhersagen, zu welcher.
Sie kann also auch nicht mehr für alles die Verantwortung übernehmen,
ein Teil der Verantwortung liegt bei den Familienmitgliedern.
Somit
steht die Therapeutin nicht mehr unter dem Druck, die PatientInnen auf
den von ihr vorgesehenen, „richtigen“ Weg zu schicken, sondern kann in
Ressourcen und Selbstheilungskräfte der Familie vertrauen.
Das
heißt jedoch nicht, dass sie selbst keinerlei Verantwortung mehr trüge.
Die Therapeutin trägt Verantwortung für ihr therapeutisches Handeln,
dem neben sachlicher Kompetenz auch Empathie, Echtheit und Respekt vor
dem Gegenüber zugrunde liegen sollte. Auch scheinbar dysfunktionales
Verhalten der Familie stellt vor dem Hintergrund der Logik des Systems
einen Lösungsversuch dar und sollte als solcher gewürdigt werden.
Die Therapeutin trägt weiter die Verantwortung für ihre eigene
Weltsicht und sollte möglichst tolerant gegenüber anderen Weltsichten
sein. Ihre Aufgabe besteht darin, ein erstarrtes System anzustoßen und
ihm zu helfen, sein Problem selbst kreativ zu lösen. Sie stellt
Urteile, Bewertungen und einseitige Sichtweisen in Frage, um neue
Perspektiven zu eröffnen und neue Beziehungsdefinitionen zu
ermöglichen. Sie hilft der Familie, über den Zaun zu schauen, der den
Blick auf andere als die bisher verfolgten Lösungsmöglichkeiten
verstellt. Es geht nicht darum, den Blickwinkel der Familie oder
einzelner Familienmitglieder als falsch darzustellen, sondern darum,
neue Perspektiven hinzuzufügen, den Horizont zu erweitern und somit der
Familie mehr Wahlmöglichkeiten zu eröffnen.
Diese erweiterte Wahrnehmung und der damit erweiterte
Handlungsspielraum ermöglichen es, eingefahrene Wege, die sich als eher
problemaufrechterhaltend erwiesen haben, zu verlassen und Neues
auszuprobieren.
Techniken in der systemischen Therapie
Um das System anzustoßen und neue Sichtweisen zu ermöglichen,
haben sich verschiedene Techniken in der Systemischen Therapie
besonders bewährt, von denen einige im folgenden exemplarisch kurz
dargestellt werden sollen.
Zirkuläres Fragen Nach Watzlawick kann man nicht „nichtkommunizieren“.
Das heißt, dass in einem sozialen Kontext jedes gezeigte Verhalten
nicht nur als ein Ausdruck eines intern im Menschen ablaufenden
Ereignisses, sondern auch als kommunikatives Angebot verstanden werden
kann. Wird diese kommunikative Bedeutung des Verhaltens sichtbar
gemacht, kann dies der Familie neue Anstöße geben. Das zirkuläre Fragen
wird dem Beziehungsgeflecht gerecht, es stellt nicht den einzelnen,
sondern Beziehungen in den Vordergrund und spricht mehrere Leute
gleichzeitig an, deren Interesse damit aufrechterhalten wird.
So wird beispielsweise weniger gefragt: „Lisa, warum kratzt du?“, eher
schon: „Frau Meyer, was denken Sie, wenn Lisa kratzt?“ oder sogar:
„Klaus, was denkst du, was wohl in deiner Mutter vorgeht, wenn sie Lisa
kratzen sieht?“ Mit dieser Fragetechnik entsteht neue Information im
System.
Lisa erfährt etwas über die mögliche Wirkung ihres Kratzens auf die
Mutter, die Mutter erhält eine Information über eine mögliche Intention
von Lisa und beide erfahren etwas über ihre Beziehung aus der Sicht von
Klaus. Bei allen Beteiligten werden so neue Sichtweisen und
Denkprozesse angeregt.
Reframing
Das Reframing, auch Umdeuten genannt, gibt Gefühlen,
Verhaltensweisen, Interaktionen oder Symptomen einen neuen Rahmen. Das
heißt, dass es auch hier darum geht, etwas aus einem anderen
Blickwinkel als bisher wahrzunehmen, d. h. in der Regel, die Bedeutung
des Geschehens zu verändern.
Lisas Kratzen wird beispielsweise in der Regel als negativ bewertet,
weil sich der Hautzustand dadurch verschlechtert. In einen neuen
Kontext gestellt kann das Kratzen aber eine völlig neue Bedeutung
erhalten. So könnte die Therapeutin Lisa ein Kompliment machen: „Lisa,
ich finde es toll, wie du dich um deine Familie kümmerst. Durch das
Kratzen sind deine Eltern beschäftigt und du schützt sie davor, sich
mit den schlechten Schulnoten von Klaus auseinanderzusetzen, bevor sie
die Kraft dazu haben.“
Wohlgemerkt – es geht nicht darum, z. B. eine genetische Disposition zu
negieren oder den Juckreiz als mögliche Ursache für das Kratzen zu
verleugnen, und es geht auch nicht darum, ob die oben genannte positive
Umdeutung wahr ist. Es geht darum, ein erstarrtes System mit linearem
Ursache-Wirkungs-Denken anzustoßen.
Möglicherweise ist das Kratzen Lisa gegenüber erstmals positiv bewertet
worden, und das kann eine überwältigend andere Sicht der Dinge
darstellen. Durch eine andere Sicht ent steht vielleicht anderes
Verhalten, das Mobile „Familie“ gerät in Bewegung.
Die Familienskulptur
In der Familienskulptur wird ein Familienmitglied instruiert, mit
Hilfe der versammelten Familienmitglieder eine Skulptur, eine Art
Denkmal zu bauen.
Dabei werden emotionale Nähe, Macht in der Familie und bestimmte
charakteristische Eigenschaften der Personen durch physische Nähe,
Größe und Gestik oder Mimik symbolisiert. Je nach Indikation ist es
möglich, einen bestimmten Zeitpunkt auszuwählen, für den die Skulptur
stehen soll, oder auch einen Wunschzustand darzustellen. Nach dem
erfolgten Aufbau schlüpft der oder die BildhauerIn selbst an ihren
Platz und die Familie verharrt einen Moment in der vorgegebenen
Position, wobei auf auftretende Empfindungen geachtet werden soll. Die
Skulptur bietet einen Ansatzpunkt für viele Fragen sowie
Austauschmöglichkeiten über die unterschiedlichen Sichtweisen der
Familienmitglieder.
Weil
diese Technik zunächst einmal nicht an die Sprache gebunden ist, umgeht
sie viele Abwehrmechanismen wie Rationalisieren und
Intellektualisieren. In ihrer expliziten Darstellung kann eine Skulptur
oft intensive Gefühle auslösen.
Hat z. B. Klaus beim Aufbau der
Skulptur Lisa und die Mutter sehr eng zusammen gestellt, sich selbst
auch zur Mutter und den Vater weit außerhalb, so wird vielleicht dem
Vater erstmals wirklich bewußt, dass er sich „außen vor“ fühlt. So eine
Erkenntnis kann schmerzhaft sein, bietet aber oft den ersten
Ansatzpunkt zu einer Veränderung von eingefrorenen
Rollenkonstellationen, wie sie gerade bei chronischen Erkrankungen in
der Familie oft typisch sind.
Systemische Techniken können damit einen wertvollen Beitrag zum Umgang
mit einer chronischen Erkrankung wie der Neurodermitis – oder exakter:
zum Umgang mit dem betroffenen System – darstellen.
Schlußfolgerungen für meine Arbeit
Unser Ansatz bei der Betreuung von Familien chronisch erkrankter
Kinder besteht natürlich nicht nur in der Psychotherapie oder
Familientherapie. Häufig ist diese auch gar nicht indiziert. Aus dem
bisher Dargestellten sollte jedoch deutlich geworden sein, warum es
Sinn macht und ganz neue Zugangswege eröffnet, nicht nur mit „dem
kranken Kind“ zu arbeiten, sondern Familienmitglieder in das
therapeutische Konzept mit einzubeziehen. So fließen in die Arbeit
eines pädagogisch-psychologischen Teams die Prämissen des systemischen
Denkens in vielfältiger Weise ein.
Bei Schulungen beispielsweise ist es hilfreich, den
Wirklichkeitskonstruktionen und Lösungsversuchen der
Schulungsteilnehmer wertschätzend und respektvoll gegenüberzutreten.
Auch bei einer Familienberatung, bei der sich die Arbeit mit der
Familie auf einen bestimmten Bereich, beispielsweise den Umgang mit dem
Kratzverhalten des Kindes bezieht, ist es sinnvoll, neue Sichtweisen
und Perspektiven einzubringen.
Im Einzelgespräch mit Mutter, Vater oder Kind können Techniken wie
positives Umdeuten oder zirkuläres Fragen neue Anstöße geben oder den
Blick auf neue Handlungsoptionen eröffnen.
Die Bedeutung des systemischen Denkens ist damit nicht nur in der
Familientherapie im engeren Sinne zu sehen, sondern vor allem als eine
Grundhaltung, die sowohl der Vernetzung als auch der
Selbstverantwortlichkeit der Menschen Rechnung trägt. Daneben bewähren
sich in der Arbeit ebenso klientenzentriert-gesprächstherapeutische und
verhaltenstherapeutische Ansätze. Auch darin spiegelt sich ein
systemische Gedanke wider: Weg vom „Entweder-Oder“, hin zum
„Sowohl-Als-Auch“... das bedeutet: Das machen, was nützlich ist.
Ymke Stephan, Dipl. Psych, psychologische Psychotherapeutin
Verwendete Literatur:
Essen, Siegfried: Spirituelle Aspekte
in der systemischen Therapie; Zeitschrift „Transpersonale Psychologie
und Psychotherapie“, 2/1995
Könning, Josef (Hrsg.): Betreuung asthmakranker Kinder im sozialen Kontext; Enke. 1997
Rotthaus, Wilhelm: Die Auswirkungen
des systemischen Denkens auf das Menschenbild des Therapeuten und seine
therapeutische Arbeit; Praxis
Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 1989
Schlippe, Arist und Schweitzer, Jochen: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, Vandenhoeck & Ruprecht.1997
Schlippe, Arist, Molter, Haja,
Böhmer, Norbert: Zugänge zu familiären Wirklichkeiten; Systhema
Sonderheft, Verlag des Weinheimer Institutes für Familientherapie. 1994