
Von der Hygiene-Hypothese hat inzwischen fast jeder gehört. Sie bietet
einen Erklärungsansatz, warum Neurodermitis und Allergien in den
Industrienationen ständig zunehmen. Kernaussage der Hygiene-Hypothese:
Weil wir in einer sehr sauberen, keimarmen Umgebung aufwachsen, muss
sich unser Organismus zu wenig mit Bakterien, Viren und Würmern
auseinandersetzen. Dadurch wird das Immunsystem nicht richtig trainiert
und fängt an, auf eigentlich harmlose Substanzen wie Pollen loszugehen.
Eine Reihe von Beobachtungen sprechen dafür, dass an dieser Hypothese
etwas dran ist. Privatdozent Dr. Jörg Kleine-Tebbe aus Berlin, Mitglied
des Ärzteverbandes Deutscher Allergologen (ÄDA) und der Deutschen
Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI):
"Kinder, die auf Bauernhöfen groß werden, erkranken seltener an
Neurodermitis, Heuschnupfen und Asthma, wahrscheinlich weil sie
häufiger in Berührung mit bestimmten Bakterien und
Bakterienbestandteilen kommen. Dasselbe gilt für Jungen und Mädchen,
die schon in den ersten Lebensjahren eine Kinderbetreuungsstätte
besuchen. Hier sorgt der Umgang mit vielen anderen Kindern für einen
regen Kontakt zu Mikroorganismen."
Pro Infekt acht Prozent mehr Risiko
Ausgehend von der Hygiene-Hypothese wird häufig vermutet, dass auch
Atemwegsinfektionen und Durchfallerkrankungen, die in den ersten
Lebensjahren durchgemacht werden, vor Neurodermitis, Heuschnupfen und
Asthma schützen. Schließlich muss sich der Organismus bei diesen
Infekten sehr intensiv mit Krankheitserregern auseinander setzen. Ganz
so einfach scheint es aber nicht zu sein. Im Gegenteil: Dänische
Wissenschaftler um Christine Stabell Benn stellten fest, dass
Erkältungskrankheiten und Magen-Darm-Infekte das Risiko für
Neurodermitis sogar erhöhen können.(1) Die Forscher berufen sich auf
Ergebnisse einer Studie mit über 24.000 Kindern und ihren Müttern, die
sie von der Geburt bis zum Alter von 18 Monaten beobachteten. Mit jeder
Infektionskrankheit, die ein Kind im ersten halben Jahr seines Lebens
durchmachte, stieg die Gefahr, bis zum 18. Lebensmonat an Neurodermitis
zu erkranken, um etwa acht Prozent. Bekannte Schutzfaktoren wurden
durch die Studie dagegen bestätigt: Kinder mit vielen Geschwistern,
Kinder, die auf einem Bauernhof aufwuchsen und Kinder, die früh in den
Kindergarten kamen, erkrankten seltener. Auch Haustiere reduzierten die
Neurodermitis-Gefahr – ein Ergebnis, das allerdings in Widerspruch zu
einigen anderen Untersuchungen steht. Bisher empfehlen Allergologen,
dass zumindest Kinder mit einem erhöhten Risiko für Allergien – zum
Beispiel weil ihre Eltern betroffen sind – wenig Kontakt mit Haustieren
haben sollten.
Auf die "richtigen" Mikroben kommt es an
Die dänische Studie spricht dafür, dass es nicht so sehr darauf
ankommt, als Kind möglichst viel Kontakt zu Viren, Bakterien und
Parasiten zu haben – es müssen die "richtigen" Mikroben sein. Der
Allergie-Forscher Graham Rook vom University College London hat hier
insbesondere einige Bakterien- und Wurmarten im Visier, die mit dem
Menschen über Jahrtausende in einer symbiotischen Beziehung lebten,
durch die verbesserte Hygiene aber weitgehend vertrieben worden sind.
Rook nennt sie "alte Freunde".(2) Der Kontakt mit diesen
Mikroorganismen, zu denen Milchsäurebakterien, einige Verwandte des
Tuberkulose-Erregers und Würmer gehörten, sei notwendig, damit das
Immunsystem eine gewisse Toleranz entwickelt – genau die Toleranz, die
bei Neurodermitis, Allergien aber auch bei Autoimmunerkrankungen
teilweise verloren gegangen ist.
Allergie-Spezialisten auf der ganzen Welt suchen nach Ansätzen, die
Immuntoleranz zurück zu gewinnen. Für allergische Atemwegserkrankungen
wie Heuschnupfen und Asthma gibt es eine Behandlungsmöglichkeit, die
dieses Ziel erreichen kann: die spezifische Immuntherapie (SIT,
Hyposensibilisierung). Dabei injiziert der Arzt dem Patienten
regelmäßig Lösungen, die die Substanz enthalten, auf die der Patient
allergisch reagiert. So gelingt es in vielen Fällen, die
Überempfindlichkeit des Immunsystems zu verringern, manchmal ist sogar
eine vollständige Heilung der Allergie möglich. Dr. Kleine-Tebbe: "Eine
spezifische Immuntherapie mit standardisierten Allergenextrakten
erreicht bei allergischen Atem-wegserkrankungen Erfolgsquoten bis zu 70
Prozent und bei Insektengiftallergien bis zu 90 Prozent und darüber.
Und inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass Patienten mit
Neurodermitis, die gleichzeitig an allergischen Atemwegserkrankungen
leiden, ebenfalls von einer spezifischen Immuntherapie profitieren
können."
Um zu verhindern, dass Allergien überhaupt entstehen, wird mittlerweile
noch eine andere Möglichkeit erforscht: Eine Impfung soll den Kontakt
mit bestimmten Mikroorganismen imitieren und dadurch trotz Hygiene für
Toleranz im Immunsystem sorgen.
(1) Benn CS et al.: British Medical Journal 2004 (328): 1223-1228
(2) Rook GA et al.: Springer Semin Immunopathol. 2004 (25): 237-255