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Digitalisierung: „Mit diesen Gesetzen kann es einen Durchbruch geben“

Die Universitätsprofessorin, Ärztin und Ingenieurin für biomedizinische Technik, Prof. Dr. Sylvia Thun, ordnet im Interview zwei Gesetzesvorhaben aus dem Bundesgesundheitsministerium ein, die im Herbst umgesetzt werden sollen.

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Das Gesundheitsministerium arbeitet derzeit an zwei wichtigen Gesetzesvorhaben: Digitalgesetz und Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG). Worum geht es dabei?

Prof. Dr. Sylvia Thun: Das Digitalgesetz ist ein sehr umfangreiches Werk, das die Digitalisierung des Gesundheitssystems voranbringen soll. Daran wird ja schon länger gearbeitet, insofern steht in dem Gesetz nicht erstaunlich viel Neues. Unter anderem geht es um die elektronische Patientenakte, kurz ePA – sie soll bis zum 1. Januar 2025 für alle gesetzlich Versicherten verbindlich eingerichtet werden.

Sylvia Thun, Professorin für Digitale Medizin und Interoperabilität am Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). Foto: ©Thomas Rafalzyk

Und wenn jemand keine ePA haben möchte?

Thun: Es gibt die Möglichkeit, zu widersprechen. Für die ePA ist in diesem Gesetz eine so genannte Opt-Out-Regelung vorgesehen – alle, die nicht ausdrücklich widersprechen, bekommen eine solche elektronische Akte. Unter anderem enthält sie eine Medikations-Dokumentation und andere Behandlungsdaten. Die ePA wird seit vielen Jahren geplant – das Digitalgesetz soll jetzt dafür sorgen, dass die Dinge tatsächlich ins Laufen kommen.

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Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz GDNG…

Thun: …dient dazu, den European Health Data Space, kurz EHDS, in Deutschland vorzubereiten. Die Europäische Union hat im vorigen Jahr einen Entwurf vorgelegt, einen solchen digitalen Raum für Gesundheitsdaten einzuführen, der unter anderem Plattformen für die Forschung schaffen soll. Das muss aber in jedem Land organisatorisch, prozessual und interoperabel vorbereitet werden – bei uns geschieht das mit Hilfe des GDNG. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM. Dort wird das Forschungsdatenzentrum Gesundheit weiterentwickelt.

Wie beurteilen Sie die derzeit vorliegenden Entwürfe für die beiden Gesetze?

Thun: Grundsätzlich sehr positiv. Denn in beiden Entwürfen wurden die Probleme erkannt und adressiert.

Welche Probleme?

Thun: Zum Beispiel die Interoperabilität – das ist ein sehr komplexes Feld, bei dem es um Standards geht, die einen reibungslosen Datenaustausch ermöglichen. Das wird zum Beispiel schwierig, wenn Arztpraxen, Kliniken, Apotheken und andere Beteiligte unterschiedliche IT-Systeme nutzen. Im GDNG sind jetzt klare Zuständigkeiten eingezogen für alles, was mit der Nutzung von Gesundheitsdaten zu tun hat.

istock Halfpoint“Alle, die den Patienten versorgen, müssen den gleichen oder einen besseren Zugriff auf Daten und Algorithmen haben wie die Krankenkassen.”

Haben Sie Verbesserungsvorschläge für die beiden Gesetzesentwürfe?

Thun: Selbstverständlich. Im Entwurf zum Digitalgesetz steht zum Beispiel, dass man seine Dokumente zur Krankenkasse bringen soll, wo sie dann eingescannt werden. Das ist natürlich Unsinn in der heutigen Zeit, wo jeder ein Smartphone hat und damit Dokumente verschicken kann – ich hoffe, dieser Passus wird noch gestrichen. Aber das ist nur eine skurrile Geschichte am Rande, es gibt wichtigere Vorschläge.

Welche?

Thun: Insgesamt sind es drei, die mir besonders wichtig sind:
Erstens: Wir brauchen beim BfArM eine kostenfrei zugängliche, frei verfügbare Arzneimitteldatenbank. Sie muss den Anforderungen des EHDS entsprechend FHIR-konform sein. FHIR ist ein Standard, der den Datenaustausch im Gesundheitswesen unterstützt. 

Zweitens: Alle, die den Patienten versorgen, müssen den gleichen oder einen besseren Zugriff auf Daten und Algorithmen haben wie die Krankenkassen – das gilt für Ärzt:innen, Therapeut:innen und auch für Apotheker:innen.

Aber wenn es die ePA gibt, dann haben doch alle den gleichen Zugriff.

Thun: Das reicht eben nicht. Denn mit der ePA verfügen Mediziner:innen noch lange nicht über den Algorithmus, den die Krankenkassen haben. Dort liegen ja Millionen von Daten, die der einzelne Arzt nicht hat. Es muss eine Zentralisierung des Wissens geben, die Krankenkassen müssen also ihre Algorithmen frei zugänglich machen. Denn sonst könnte zum Beispiel eine Kasse, die über besonders viele Daten und Algorithmen verfügt, ihren Versicherten eine bessere Vorsorge anbieten als eine andere Kasse – das wäre nicht solidarisch. Wir brauchen also ein Open-Source-Prinzip, das einen freien Zugang zu Algorithmen und Daten ermöglicht.

Gilt das auch für die Gesundheitsindustrie?

Thun: Ja. Im Entwurf zum GDNG steht übrigens auch drin, dass industrielle Forschung mit anonymisierten Daten ermöglicht werden soll – das ist auch richtig so. Was ich allerdings mit „Open Source“ meine, ist, dass ich als Ärztin die Möglichkeit haben muss, auf die Daten aller Krankenkassen zuzugreifen, etwa auf Test- und Trainingsdaten. Denn wenn die Kassen nur ihre eigene KI mit diesen Daten füttern, also Anwendungen, die auf Künstlicher Intelligenz basieren, dann ist irgendwann, vielleicht in fünf Jahren, die KI der Krankenkassen ´klüger` als jeder Arzt in Deutschland. Das macht keinen Sinn.

Sie hatten noch einen dritten Verbesserungsvorschlag.

Thun: Wir brauchen Interoperabilität entlang des Patientenweges und nicht entlang der Sektorenmauern.

Das müssen Sie erklären.

Thun: Nun, im Entwurf zum GDNG findet sich 256mal der Begriff „Interoperabilität“. Das ist also ein relativ langer Passus, in dem steht, dass die Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV die Spezifikationen machen soll – dazu zählt die Einrichtung des bereits erwähnten FHIR-Standards. Für FHIR sollte aber nur eine Stelle zuständig sein, nämlich die gematik mit der neuen Digital Health Agency. Die sollen das für alle verbindlich definieren. Es darf nicht jeweils eigene Spezifikationen für den niedergelassenen Bereich, den Krankenhaus-Bereich und den Reha-Bereich geben – sondern wir brauchen eine zentrale Stelle, die das koordiniert.

Der jetzige Entwurf zum GDNG sieht vor, das Forschungsdatenzentrum Gesundheit weiterzuentwickeln. Bedeutet das, dass auch die Industrie unbürokratische Anträge auf Datenzugang stellen kann?

Thun: Es ist erlaubt, dass auch die Industrie solche Anträge stellen und mit Daten forschen darf. Ich hoffe, dass es diesmal einen guten, einfachen und sicheren Zugang zu anonymisierten Daten gibt.

Was bringen die Gesetze den Patient:innen?

Thun: Mit diesen Gesetzen kann es einen Durchbruch geben – für die Patientenakte und fürs Forschungsdatenzentrum. Das sind die beiden großen Herausforderungen. Wir brauchen eine stabile und starke Forschung in Deutschland, an der auch die Industrie beteiligt ist. Denn die Wissenschaftler:innen arbeiten ja nicht alleine, sondern sie haben meist Industriepartner. Wenn das funktioniert, bekommen die Patient:innen die richtige Therapie, wenn sie schwer erkranken. In so einem Fall möchte ich das neueste onkologische Arzneimittel haben. Wir müssen in unserem eigenen Land und in Europa forschen dürfen und auch Klinische Studien durchführen können. Das ist extrem wichtig für unsere Industrie und die Wissenschaft. Und für die Patient:innen ist auch die Patientenakte wichtig. Sie enthält meine Behandlungsergebnisse, aber auch Hinweise zu anstehenden Impfungen oder zu möglichen Wechselwirkungen der Arzneimittel, die ich einnehme. Gerade die Vorsorge lässt sich mit der Patientenakte gut steuern. Wichtig finde ich dabei auch: Sobald ich meine eigenen Daten bekomme, weiß ich auch über meine Gesundheit Bescheid. Heute ist das leider eine Blackbox. Das ändert sich mit der ePA. Meine Daten helfen mir dabei, etwas über meine Organe zu lernen, über meine Gesundheit und meine Krankheiten – und wie ich damit umgehen kann.

Weiterführende Links:

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/digitalisierungsstrategie-vorgelegt-09-03-2023.html

https://www.gematik.de/presse/pressemitteilung-digitale-identitaet-als-alternative-zur-elektronischen-gesundheitskarte

https://www.ina.gematik.de/

 

Quelle: Pharma Fakten 5.7.2023

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