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07.06.2015

Gedanklicher Umgang

Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich ein Konzert im Planetarium besucht habe. Es war  einer dieser besonderen Abende, an dem live Klaviermusik und Gesang geboten wurde zu Bildern von den Sternen. Während mich dieser Abend mit allen Sinnen berauschte, war ein Besucher, der in meiner Reihe saß, verzweifelt damit beschäftigt, mit seinem Handy jeden der Songs digital wiederzuerkennen. Als zwecklos erwies sich der dezente Hinweis seiner Begleitung, dass es die CD des Sängers doch zu kaufen gäbe. Der Abend endete damit, dass dieser Herr beim Hinausgehen nicht nur über sein Handy jammerte, sondern auch über die unbequemen Sitze und seine körperlichen Beschwerden. Im dichten Gedränge auf dem Weg nach draußen kam er aus dem Jammern kaum noch heraus, er schimpfte über das Wetter (es regnete), die Politik in Deutschland und das Leben schlechthin. Wie soll man sich da noch über etwas freuen können?!

„Zu einer angesehenen Jammergestalt“ aufsteigen


Franz Stowasser und Rudolf Kraus beschreiben in ihrem Buch „Jammern – aber richtig!“ eine „Anleitung“, wie man sich aus paradoxer Perspektive zu einer „reifen Persönlichkeit“ entwickeln kann, indem man „Jammern als psychohygienisches Gestaltungsmittel“ einsetzt.
Die beiden Autoren schildern zunächst, dass man sich als Mensch „durch intensives Jammern Erleichterung oder doch zumindest etwas Abstand von Unpässlichkeiten, Wehwehchen, Störungen, aber auch gefühlsmäßige Distanz von Schicksalsschlägen und schmerzlichen Erfahrungen“ ermöglichen kann. In diesem Zusammenhang wird das Jammern als „bewährte Methode zur seelischen und psychischen Katharsis“ beschrieben. Unter Katharsis wird also ein Abreagieren via Jammern von – möglicherweise verdrängten – Gefühlen oder Konfliktsituationen verstanden.
Diese kathartische Methode geht auf Josef Breuer und Sigmund Freud zurück und wird auch heute noch psychotherapeutisch eingesetzt. Ein sich „Aus-Jammern“ kann allerdings auch dazu führen, dass der als negativ erlebte Umstand immer mehr ins Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit gerückt und auf diese Weise noch belastender erlebt wird. Man könnte bildlich darunter verstehen, eine Lupe auf das „Negative“ zu legen und es infolge noch massiver und belastender zu erfahren.

Paradoxes Vorgehen


Die Autoren Stowasser und Kraus formulieren die zentralen Aussagen ihres Buches auf paradoxe Art und Weise. Sie fragen sich und den Leser: „Wie kann ich sicher sein, richtig zu jammern?“ und „Worauf soll ich beim Jammern besonders achten?“ 
Um ihre Leitfragen zu beantworten, befürworten sie zunächst und immer wieder eine „mentale Exkursion ins Jammertal“. Dieser Ort des Jammerns sollte möglichst nicht bequem und angenehm sein.
Weiter wird empfohlen, beim Jammern eine möglichst zusammengesunkene und destruktive Körperhaltung einzunehmen, damit auch körperlich das Jammern unterstützt wird. Diese Beschreibung ähnelt dem Inhalt eines bekannten Cartoons der Peanuts, in dem Charlie Brown beschreibt, dass eine deprimierte Haltung ein deprimiertes Gefühlsleben mitgestalten und verstärken kann.
Der nächste Schritt auf dem Weg, ein Profi im Jammern zu werden, stellt die Gründung einer Jammergruppe dar. Und selbstverständlich sollte man selbst an der eigenen „Stimmführung“ arbeiten; denn die zum Jammern dazugehörige, professionell ausgeführte „Intonation“ beinhaltet z.B. „das gepresste Aufwürgen, das unterdrückte Schluchzen…“ etc.
Die paradoxen Anleitungen führen weiter über das Erstellen einer „Jammerkassette“, die man im Auto bei „Jammerfahrten“ hören sollte. Es empfiehlt sich, doch gleich ein „Fahrtenbuch der Jammerfahrten“ anzulegen.

Vom Hundertsten ins Tausendste kommen


Hat man sich schließlich zu „einer angesehenen Jammergestalt“ gemausert, ist man z.B. ein Profi, was das  „Zuwendungsjammern: Beachte mich, wenn ich jammere!“ betrifft. Man ist geübt darin, immer etwas zum Jammern aufzutun und sich weiter darin aufzuschaukeln. Man ist der Lage, stündlich, passend zur Tages- oder Nachtzeit, einen Jammeranlass zu finden. Man kann rund um das Jahr immer passende Jammertäler finden, was Stowasser und Kraus als „typisches Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterjammern“ bezeichnen. Hinzukommt die Fähigkeit des „Mengenjammern“, man jammert also entweder über ein „zu viel“ an diesem oder über ein „zu wenig“ an jenem oder über beides.

Heraus aus dem Jammertal


An einer chronischen Hauterkrankung wie Neurodermitis, Rosazea oder Vitiligo zu leiden, bedeutet für den Betroffenen, immer wieder Phasen zu erleben, an dem man sich schlichtweg in und von der eigenen Haut gequält fühlt. Ein Jammern diesbezüglich kann in diesen Momenten in einem gesunden, d.h. begrenzten Ausmaß sinnvoll sein. Schließlich erlebt man eine Situation von Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit, Unvorhersagbarkeit… Das sich Eingestehen dieser Lage und die empathische Unterstützung durch Familie und Freunde in diesen Situationen gestaltet jene Momente erst erträglich, ohne dass man um Aufmerksamkeit jammern müsste. Vielmehr bedeutet es, sich selbst in der Spirale des Jammerns auszubremsen und die defizitorientierte Perspektive zu verlassen. D.h. man lenkt gezielt den Fokus auf die Ressourcen im Hier und Jetzt. Sich ablenken, sich etwas Gutes tun, gemeinsam für schöne Momente sorgen, dabei handelt es sich um Aktivitäten, die einem selbst helfen, „hautvergessene Momente“ zu erleben, jene Augenblicke, in denen man so abgelenkt ist, dass man das eigene Hautleiden – zumindest zeitweilig – vergessen kann. Schon der römische Dichter Horaz formulierte dies mit den Worten „Carpe diem!“, übersetzt „Pflücke oder nutze den Tag!“. Denn wie schwer auch der eigene Rucksack im Leben tagtäglich lastet, so sind es doch unsere Momente, die wir (er)leben dürfen. Und uns jedem obliegt die Entscheidung, diesen Moment zu „verjammern“ oder für sich zu nutzen. In diesem Sinne: „Carpe diem!“


Autorin: Dipl.Psych. Sonja Dargatz, 2. Vors. des Deutschen Vitiligo Vereins.de.V., Redaktion vitiligo information

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